mercoledì 7 marzo 2012

EINIGE ÜBERLEGUNGEN AUS DER FERNE



Liebe Freunde aus Treviglio / Cari amici di Treviglio,

seit ca. 20 Jahren erleben wir in Italien eine historische Epoche, die man ja uneingeschränkt als “apokalyptisch” definieren könnte, wobei ich den Begriff “apokalyptisch” in seiner ursprünglichen religiösen Bedeutung von “Offenbarung / Enthüllung” verwende. Aber aufgepasst! Unsere jetzige Apokalypse hat mit der Vergangenheit gar nichts zu tun, sondern eher mit der Zukunft …. Dazu handelt es sich nicht um vier, sondern nur um einen einzigen Reiter, der unter anderem nie die Absicht hatte, eine harte Gerechtigkeit mitzubringen.
Das Ganze hat sogar auf eine fast lächerliche Art und Weise angefangen: ein ehemaliger Staubsaugerverkäufer und Kreuzfahrtsänger – gekennzeichnet durch eine einnehmende Umgangsweise, sehr geschickt beim “Schwimmen” in der Vetternwirtschaft der Politik – außerdem Baulöwe, Medienmogul, genialer Manipulant in einer Person ist direkt in die Politik eingestiegen. Eine echte Lachnummer! 
 
Nichtsdestoweniger kannte ein solcher Scharlatan unser Land viel besser als wir selbst. Während wir uns den Kopf zermarterten, um zu verstehen, wie die Krise der ersten Republik entstanden war, wie sie zu deuten war und wie eine neue demokratische Ordnung wiederherzustellen wäre, wusste er ein altes Modell wieder vorzulegen, das bei uns schon seit dem späten Mittelalter immer wieder funktioniert hatte. Anstatt sich auf zahlreiche, nutzlose Diskussionen unter den unterschiedlichen kommunalen Clans oder Parteien einzulassen, hatten die Bürger am besten dem jeweiligen ‚Zampano’ die Macht anvertraut und somit sich selbst in Untertanen verwandelt. Denn so hatte schließlich jeder etwas zum Essen bekommen und seinen Spaß gehabt.
Unser Land hatte im Übrigen zu Beginn der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts bereits eine solche Phase durchgemacht. Gegenüber der Angst vor einer gesellschaftlichen, eher herbeigebrüllten als vorbereiteten Revolution, gegenüber den Unsicherheiten der Demokratie und dank dem geschickten Missbrauch der kriegerischen Tugenden als Hebamme der Nation gelang es einem ehemaligen Grundschullehrer bzw. populistischen Journalisten, der die Massen auf eine rüde und volkstümliche Art und Weise erobert hatte, den König (wohlgemerkt den König!!) davon zu überzeugen, zur Seite zu treten. Und warum dies? Einfach weil er, der wegweisende Diktator, die Sache wieder in Ordnung bringen und aus einem müden Volk endlich eine Nation machen wollte.
So beging der König Harakiri für sich selbst und seine Abkommen. Was für ein König!! Danach wurde das Land dank dem erwähnten Steuermann in einen tragischen und unbedachten Krieg verwickelt. Seitdem, seit jener harten Lektion der Geschichte, sah es so aus, als ob das Land das Abece der demokratischen Prinzipien, der Gewaltenteilung, der erforderlichen Sittlichkeit und eines gesunden Bürgersinnes, das Abece der Entwicklung einer breiten Zivilgesellschaft gelernt hätte.
Weit gefehlt! Leider haben wir in jungen Jahren dem ungebremsten Trippeln von uralten, dennoch sehr rüstigen Heuschrecken beigewohnt: Individualismus, Familismus, Privatismus, Partikularismus, politischer Opportunismus, Klientelwirtschaft, Servilismus. Echte “-Ismen”, die eine Nation konstituieren!!!
Wir haben wieder feststellen müssen, dass unser Mittelstand unbedeutend ist, vor allem in qualitativer Hinsicht und dass unsere Intellektuellen entweder Feiglinge sind oder gar keine nützlichen Ideen entwickeln können oder dass sie sie gar nicht vermitteln können.
Es ist also offenkundig geworden, dass in Italien eine fatale Symbiose zwischen Mammonanbetern, Anhängern des politischen Oberhaupts, groben Kirchturmpolitikern und Nostalkigern der Theokratie erneut entstanden ist.
Diejenigen, die in der jüngsten Vergangenheit dieser Unsitte Widerstand geleistet haben, haben auf eine sporadische, unsystematische Art und Weise immer versucht, das Fortschreiten dieser allgemeinen Tendenz zu verhindern. Sie haben sich entweder auf faule Kompromisse eingelassen oder haben eine starre Oppositionsarbeit geleistet oder an die “gesunden Kräfte” des Volkes appelliert, wobei sie einen Tümpel für das Meer hielten. Lediglich wenige haben gemerkt, leider auch zu spät, dass eine solche Symbiose bei uns eine lange Tradition aufweist. Und wehe dem, der Geschichte und Tradition nicht versteht, denn derjenige, der langfristig nicht zu planen vermag, der kann auch kurzfristig nicht die richtigen Entscheidungen treffen. Darüber hinaus ist die Unkenntnis des Gegners und des Kampfplatzes immer die beste Voraussetzung für eine Niederlage.



( I )

EINIGE TATSACHEN

Lassen wir aber nun den sarkastischen Ton beiseite und richten wir unsere Aufmerksamkeit auf DREI TATSACHEN, die meiner Ansicht nach sowohl unbestreitbar als auch enorm wichtig sind, wobei ich sie zeitlich rückwärts gehend anordnen möchte:
1 ) In den letzten zwei Dekaden haben wir dem fortlaufenden moralischen und mentalen Verfall einer Nation beigewohnt. Auf öffentlicher Ebene hat sich dieser Verfall auf eine vielfältige Art und Weise manifestiert: in der Ausbreitung der Improvisation und der institutionellen Inkompetenz, in der Profilierungssucht, in der Mentalität, “einen Coup „ landen zu wollen, in der missbräuchlichen Verwendung der öffentlichen Einrichtungen zu privaten Zwecken etc. etc. Wenn man aus diesem schäbigen, dennoch kohärenten Sammelsurium an Fakten eine Definition des Begriffs “Demokratie” entnehmen müsste, dann könnte man nur auf folgendes schließen: “ Demokratie = die Gosse an der Macht “. Jawohl, Calderoli, Bossi, Sgarbi, Cota, Fede, Santanché, Feltri, Verdini, Herr B. und viele seiner Fräulein repräsentieren die Mediengosse, die ununterbrochen aus der Mattscheibe herausquillt.
2) Dieses ‚erbauliche’ Szenario hat hoffnungslos das unterstrichen, was manch einer schon länger geahnt hatte: die fehlende Solidität der republikanischen Institutionen und die verbreitete Verachtung für die Grundprinzipien der Demokratie im engsten paradigmatischen Sinne.
3 ) Seit rund einem Jahrhundert – mit Sicherheit seit 1914 – hat Italien keine dauerhaften Fortschritte im Bürgersinne und als Staat gemacht. Denn jene starken Beteuerungen des nationalen Bewusstseins (Intervention in den 1. Weltkrieg und Faschismus) haben in der Tat zu großen kollektiven Desastern geführt. Die improvisierte Intervention im Ersten Weltkrieg, von den konservativen Kräften und von Profiteuren gewollt, verursachte, wie es zu erwarten war, nicht nur die bekannten Gräuel, sondern auch eine soziale und ökonomische Zerrüttung. Sie beschädigte außerdem das Fundament der an sich bereits schwachen Demokratie. Der Faschismus, der aus dieser Krise entstand, versuchte im Nachhinein einen nationalen Bürgersinn künstlich bzw. auf eine autoritäre und antidemokratische Art und Weise zu erzwingen, und zwar nach einem ideologischen Schema, das sich als nicht nur als unmoralisch oder kriminell, sondern auch als zutiefst unhistorisch erwies. Was daraus folgte, war eine noch destruktivere und höchst erniedrigende Katastrophe. Der dann folgende demokratische Wiederaufbau als Resultat der Widerstandsbewegung (das positivste Reservoir an Ideen und Energien des letzten Jahrhunderts) lief aber auf zwei enorme Sandbänke auf: den kalten Krieg und die ideologisch-religiöse Spaltung des Landes.
Unsere Demokratie war und ist eine Demokratie, die zwar von gesunden Prinzipien inspiriert ist, die aber nicht zum Blühen kam, weil sie mit der ungelösten Gespaltenheit historischer oder gar eschatologischer Natur unseres Landes zusammenleben musste. Der Zusammenbruch der so genannten ersten Republik und die politisch-historische Phase, die wir gerade erleben, haben uns einmal mehr aufgezeigt, dass wir weiterhin ein geteiltes und schwaches Land sind, das im Vergleich mit unseren europäischen Hauptpartnern in mehrerer Hinsicht noch „rückständig“ ist.

( II )

ERSTE ANALYTISCHE ANNÄHERUNG AN DAS THEMA

( a )

Nun will ich mich an einer sehr kurzen Anamnese unserer tiefen Übel versuchen, um schnell zu einer lapidaren Diagnose zu kommen.
Wie bereits gesagt, sind in den letzten zwei Dekaden einige italienische Ur-Übel mit Wucht erneut hervorgequollen: der Familismus, der unersättliche Individualismus, der Privatismus, das Primat der lokalen Behörde, des Klans oder des religiösen Konventikels, die Klientelwirtschaft, der politische Opportunismus, der zynische und ungenierte Gebrauch jedweder Ideologie. Demjenigen, der verstehen möchte, wie es mit solchen Dingen steht, empfehle ich die Lektüre eines sehr lehrreichen Essays von Giacomo Leopardi: “Rede über den gegenwärtigen Zustand der Sitten der Italiener”. Eine kleine Arbeit, die unser frühreifes Genie um 1824 verfasste, welche aber erst 1906 veröffentlicht wurde. Natürlich eine Schrift, die den meisten Italienern weitestgehend unbekannt ist.
Die Übel, die unser Autor aus Recanati den Landsleuten vorwarf, sind mehr oder minder die oben aufgelisteten. Was drücken aber solche Symptome aus? In Kürze: das Fehlen einer gesunden Zivilgesellschaft, verbreitet in allen Sozialschichten und fähig, die Bürger einzubinden in starke Bräuche, Sitten und Regelwerke, die von allen nachvollzogen werden. Noch knapper ausgedrückt: das Fehlen des Sinns fürs Universelle. Hegel würde hier hinzufügen: auch das Fehlen einer selbstbewussten staatstragenden Mittelschicht als Hüterin des Universellen.


( b )

Aber wieso – könnte einer fragen – fehlt bis jetzt bei meinen historischen Überlegungen jeder Hinweis auf die Bewegung der Achtundsechziger ? Aus Vergesslichkeit vielleicht ? Oder weil ich denke, dass diese Bewegung irrelevant war ? Weder das Eine noch das Andere ist der Fall. Ich glaube sogar, dass über sie nicht zu schweigen ist, vor allem wenn man aktiv dabei war.
Einerseits war der Aufbruch der Achtundsechziger eine schöne Bewegung. Sie zerriss die Fesseln einer biederen, autoritären Kultur, sie bahnte allen den Weg für eine freiere Lebensweise, sie brachte die Frage der Gerechtigkeit in den Vordergrund. Sie bedeutete auch die Wiederaufnahme der Ideale des antifaschistischen Widerstandes. Und soweit sie das Wachstumsfieber unserer industriellen Gesellschaft war, wirke sie positiv. Und diese positive Rolle soll ihr eingeräumt werden. Andererseits ist hinzuzufügen, dass niemand unter ihren Anführern oder Inspiratoren die tiefliegenden Probleme des Landes verstanden hatte. Keiner von ihnen verfügte ebenfalls über fundierte Kenntnisse seiner Geschichte und seiner internationalen Stellung.
Für uns war das einzig echte Problem das der unterdrückten Klassen. Ein Problem, das mit der Machtübernahme durch das Volk zu lösen war. Wir ahnten keineswegs, dass auch die geringe Relevanz und das dürftige Selbstbewusstsein des Bürgertums ein schwerwiegendes, ungelöstes Problem waren. All dies waren damals in unseren Augen Scheinprobleme. Alles war durch das Proletariat – Vater, Mutter und Hebamme des neuen Menschen – zu lösen. Jawohl, um alles hätte sich das Proletariat gekümmert, selbstverständlich flankiert von den Studenten, von den revoltierenden Frauen, von den sardischen Hirten… und so weiter. Wir dachte, wir würden eine Morgenröte zu erleben… in der Tat standen wir vor einem Sonnenuntergang, da die 68er-Bewegung in Italien der allerletzte chiliastische Aufstand in der abendländischen Geschichte gewesen ist.
Ich glaube, es wäre unsere Pflicht, mit unserer Vergangenheit abzurechnen, mit unseren Fehlern, die Fehler bleiben, selbst wenn sie aus einem Übermaß an Großzügigkeit oder aus Nicht-Wissen herrührten. Denn die 68er-Bewegung hatte auch schlimme Folgen. Gemeint ist zum Beispiel folgendes: Es machte sich ein Desinteresse am Bürgersinn und an den bürgerlichen Tugenden breit; die echten Probleme des Staates blieben unverstanden; man verstand nicht, wo die Verbündeten zu suchen waren; man hegte ein fast anthropologisches Misstrauen gegenüber den Eliten, den Hierarchien und der Belohnung jeglichen Verdienstes. Wenn man aber Rückgrat zeigen will, muss man mit dem eigenen historischen Versagen abrechnen, und zwar in der Öffentlichkeit. Eine ernste Selbstkritik tut not, wenn man all das Richtige von damals retten und wenn man sich wieder auf den Weg machen will. Es sieht nämlich so aus, dass es noch viel zu tun gibt.
Denn die Hauptprobleme, die immer noch auf der Tagesordnung stehen, sind meines Erachtens uralt. Es sind die Formung einer Nation, die diesen Namen verdient, die Entstehung eines echten Bürgersinnes, der Aufbau eines effizienten und gerechten Staates, der sich der Kontrolle nicht entzieht, die Schaffung einer ausgewogenen Gesellschaft, die allen Bürgern gleiche Chancen bietet. Es ist das Problem des guten Regierens und Verwaltens, die Transparenz der Institutionen, das Gedeihen eines Mittelstandes, der nicht parasitär, sondern dynamisch und mit einem gesunden Sinn für das Gemeinwohl versehen sein soll. Es ist das Problem der Förderung der sozialen Mobilität.
Alte Verfechter und Vorkämpfer solcher Änderungen, denen wir leider nicht gefolgt sind, waren in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Menschen wie Bobbio, Calamandrei, La Malfa, Montanelli, Lombardi, Amendola, Ernesto Rossi. Jeder kann andere Namen hinzufügen, aber wenn wir solche Fragen radikal stellen wollen, dann müssen wir zu Antonio Gramscis greifen, an seine Gefängnishefte. Denn niemand verstand besser als er die Natur unserer Probleme. Er verstand nämlich auch, wie nötig es wäre, dass die Arbeiterbewegung dem Mittelstand die Chance biete, sich zu regenerieren, und dass sie die Grundlagen für ein mögliches Bündnis mit ihm schaffe. Nach diesem ‚Polarstern’ versuchte sich die KPI zu orientieren, aber objektive Schwierigkeiten, Mangel an intellektueller Radikalität… und nicht zuletzt an Realismus ließen diese Partei orientierungslos abdriften. Der KPI, wenn sie noch existieren würden, wären wir aber sicher einer Entschuldigung schuldig.






( III )

ZWEITE ANALYTISCHE ANNÄHRUNG AN DAS THEMA

Reden wir nicht um den heißen Brei herum! Historisch gesehen, schon immer war die Katholische Kirche das Problem aller unseren Probleme, und zwar seitdem sie sich – in der Regierungszeit von Papst Gregor VII bis Papst Innozenz III – als eine echten onarchie entwickelt und sich das Recht angemaßt hatte, selbst in weltlichen Angelegenheiten die allerhöchste Instanz zu sein. Wir sollen es nicht vergessen: Ihr erklärtes Ziel war die theokratische Vormachstellung. Dadurch wurde Italien – vom Investiturstreit bis zum totalen und gnadenlosen Kampf zwischen Geulfen und Gibellinen – das Epizentrum der Konfrontation zwischen unseren Khomeinisten ante litteram und den laizistischen Kräften. Dann, als die theokratischen Ansprüche zurückweichen mussten, war Italien bereits ein gespaltenes und zerstückeltes Land geworden, der perfekte Nährboden für allerlei Zwietracht.
Selbst dem kommunalen Wagnis fehlte sowohl der historische Rahmen als auch der geistige Horizont, um sich zu einer echten Staatlichkeit zu entwickeln. Unterdessen entstanden woanders in Europa die Nationalstaaten, welche, um die Zustimmung der Kirche zu bekommen, ihr das Recht auf die direkte oder indirekte Herrschaft auf der Halbinsel zuerkannten. Denn – ausgenommen die Republik Venedig, die auf ihre Autonomie stolz war – genossen alle übrigen Staaten oder Zwergstaaten bloß eine begrenzte Souveränität. Jahrhunderte lang übte das Papstum sein Vetorecht aus, sei es politisch sei es militärisch, gegenüber jeglicher Absicht oder jeglichem Wunsch, das Land auf weltlicher Ebene zu vereinigen.
Ideologisch und kulturell wurde die Kontrolle über das Land durch die mittelalterliche Inquisition und durch das Verbot von unerwünschten Veröffentlichungen geübt. Bloß zwei Beispiele dafür: Dantes Werk “De Monarchia” wurde schon 1328 öffentlich verbrannt ( sieben Jahre nach dem Tod des Dichters ). Gleiches Schicksal für den “Defensor pacis” von Marsilius von Padua, und zwar schon 1327, zu Lebzeiten des Verfassers, der sich nach Bayern retten musste. Ich erwähne nicht umsonst diese Texte. Sie waren der Höhepunkt der Rechts- und Staatsphilosophie in der Blüte des Mittelalters. Beide Bücher konnten im restlichen Europa enorm wirken, bloß bei uns nicht.
Dann waren natürlich Lorenzo Valla. Savonarola, Machiavelli, Erasmus an der Reihe: Alle auf den Index der verbotenen Bücher oder auf den Scheiterhaufen und auf den Index ! Die Lage verschlechterte sich dann dramatisch gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts dank Papst Paul IV und den Päpsten, die gleich nach ihm kamen. Um die Reformation einzudämmen, griff die katholische Kirche zu drakonischen Maßnahmen.
Ganz oben in den Gedanken der Anführer der Gegenreformation stand der feste Wille, mit jedem Mittel zu verhindern, dass die neuen Ideen in die Halbinsel eindringen könnten. So wurde eine fieberhafte Kampagne gestartet, um das ganze Volk engmaschig und systematisch zu kontrollieren. Somit mussten Tausende von “Ketzern” oder von in Verdacht geratenen Andersdenkenden die Flucht ergreifen oder schweigen oder sich als brave Katholiken tarnen. Die Kontrolle wurde so streng, dass sämtliche Übersetzungen der Bibel ins Italienische, egal ob vollständig oder bloß partiell, verboten und verbrannt wurden. Bloß die “Vulgata”, die offizielle Übersetzung ins Lateinische war erlaubt.
Es geschah also, dass gerade das heilige Buch der Christenheit das meist verbrannte Werk war. Durch jene große “Reinigungsaktion der Seelen” beendete die Kirche die Renaissance und die kulturelle Vorrangstellung Italiens, die seit 350 Jahren dauerte: Von circa 1280 bis zum Jahr 1633, als Galileo verurteilt und zum Abschwören gedrängt wurde. Schließlich waren die Verbindungen zum Rest Europas gekappt und ein morastiger Konformismus hatte sich breit gemacht.
Wer könnte sich wundern, dass sich der Schwerpunkt der Wissenschaft woanders hin in Europa verlagerte, dass unsere Aufklärung und unsere Romantik klägliche Erscheinungen blieben ? Jemand könnte aber entgegnen: zum Schluss haben wir es geschafft. Ja, aber wie ? Die nationale Vereinigung war das Werk von kühnen Eliten à la Garibaldi, die in keiner präzisen Klasse fest verankert waren oder die sich mit einer solchen genau identifizierten. Sie war außerdem das Werk Cavours, eines genialen Politikers, der den piemontesischen Staat, nicht gerade den hochmodernsten oder am besten aufgerüsteten Staat, forcierte, das Abenteuer der Befreiung Italiens von den Ausländern zu wagen.
Man vergesse auch nicht, dass der zweite Befreiungskrieg ohne die französischen Truppen niemals erfolgreich gewesen wäre. Man sollte ebenfalls nie vergessen, dass der dritte Befreiungskrieg zu einer schweren Niederlage geführt hätte, hätten nicht die Preußen den Habsburgern 1866 eine ruinöse Schlappe beigebracht, und dass Rom, wären nicht die Franzosen in Sedan durch die deutschen Armeen geschlagen worden, von den italienischen Truppen nicht eingenommen worden wäre. Es ist also nicht angebracht, sich besonders zu brüsten.
Wie es auch sei, von 1860 bis 1914 wurden schließlich die Grundlagen für die Emanzipation des italienischen Volkes geschaffen. Aber was können 54 Jahre bedeuten ? Danach kam der Verderb des Krieges und dazu der des Faschismus, der sich 1929 mit den Lateranverträgen der Kirche beugte. Und wiederum ein desaströser Krieg, für den man sich noch zutiefst schämen sollte. Danach kamen die Befreiung durch die Alliierten und durch die Partisanen, die Republik und die Rückkehr zur Demokratie, jedoch einer Demokratie der besonderen Art, die durch tiefe politische, historische und religiöse Konflikte zerrissen war.
Und schließlich kam der Zusammenbruch der ersten Republik… dem die Rückkehr zur Epoche der „Signorie“ und zu einer Parodie des Cäsarismus folgte. Donnerwetter, es sieht so aus, dass der Kreis sich geschlossen hätte ! Scheint euch nicht vielleicht die Zeit gekommen, sich wieder auf den Weg zu machen, der im zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts abgebrochen wurde?

( IV )

UN NUN, WAS TUN ?


Es wäre absurd zu denken, man solle – in einer Art Zeitraffer – genau jene Wege wieder zurückzulegen, die andere Länder in ihrer Geschichte gegangen sind und die unserem Lande versperrt blieben. Obwohl die konstitutiven Momente der Veränderung im Grunde gleich geblieben sind, ist nicht daran zu denken, man solle oder man könne eine reinigende Erneuerung der Sitten nur durch die protestantischen Reformationen oder dank einer glatten Wiederholung der Aufklärung bewirken.
Genau diese Ereignisse und Prozesse änderten nämlich das Schicksal von Länder wie England, Frankreich, Holland, Deutschland, oder der skandinavischen Länder oder der Schweiz. Genau darauf wurden die U.S.A. gegründet. Nein, wir müssen einen anderen Weg gehen, der auf der Höhe unserer säkularisierten Zeit ist. Jedenfalls müssen wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen. Ebenfalls ist mit der Katholischen Kirche historisch abzurechnen.
Wie viel von einem theokratischen und gegenreformatorischen Gedankengut wohnt noch in den Seelen der Anhänger von Comunione e Liberazione, welche sicher nicht zufällig wichtige Stellen in der Presse von Berlusconi, in der öffentlichen Verwaltung, im Finanzwesen, in der Schule, in der Bewegung der Genossenschaften innehaben !
Und wie viele Katholiken, die noch dem zweiten vatikanischen Konzil treu geblieben sind, betrachten den Staat bloß unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität und glauben, dass das ehrenamtliche Engagement die denkbar optimale Lösung aller sozialen Probleme sei ! Auch sie haben nach wie vor nicht begriffen, dass bei uns die Errichtung eines wohl funktionierenden und gerechten Staatswesens ein noch zu erreichendes Ziel ist.
Und wie viel an partikularistischem Kleingeist steckt immer noch in den Körpern und in den Köpfen jener Lombarden, die stolz auf Pontida und Legnano sind und noch nicht verstanden haben, dass der „ große Sieg “ über Barbarossa die Vorstufe des Desasters war; jener Lombarden, die denken, dass sämtliche Probleme dadurch zu lösen sind, indem man Rom, „die diebische Stadt“, entmachtet ! Und wie viele Süditaliener, treue Verehrer von Padre Pio, verkörpern immer noch ein halb-abergläubisches Christentum und glauben, dass von den Amtsträgern nach wie vor ein Wunder, eine Pfründe oder mindestens ein Almosen zu verlangen sei !
Dies ist aber noch nicht alles. Die Kirche selbst müsste sich verpflichtet fühlen, über ihre eigene Vergangenheit gründlich zu reflektieren. Sie müsste zum Beispiel den Italienern und sich selbst erklären, warum sie in der Zeit der Gegenreformation auf der Halbinsel so autokratisch und brutal jegliche Form von christlichem Pluralismus bekämpfte. Sie müsste versuchen zu verstehen und zu erklären, wie sie dazu kam, den Häresiebegriff so zu missbrauchen, dass vielerlei Formen von Heterodoxie, die nicht ketzerisch waren, verfolgt und ausgerottet wurden.

( a )


Wie könnte man angesichts solcher Probleme ernsthaft erwarten, dass unsere schon so desorientierten und kränklichen politischen Parteien der Haupthebel für die Erneuerung des Landes sein sollten ? Nein, es kann nicht sein… obwohl das Thema der Art und Weise, wie die Parteien eine solche Herausforderung zu meistern hätten, eine Angelegenheit ersten Ranges ist. Aber jetzt möchte ich mich nicht damit befassen. Ich will bloß die Frage stellen: Wie kann man taktisch klug handeln, wenn die Strategie unklar ist ?
Dabei möchte ich noch etwas verweilen. Wenn meine Analyse auch annähernd stimmt, wenn die tiefen und fatalen Übel, an denen unser Land krankt, mit der Tatsache zu tun haben, dass Italien – von kurzen Zwischenzeiten abgesehen – dauernd von den Guelfen beherrscht wurde – und, wohl bemerkt, nicht von den Christen, nicht von den Katholiken überhaupt, sondern von der guelfisch-päpstlichen Untergruppe – ; dann dürfen wir diese traumatische und folgenreiche Vergangenheit nicht verdrängen. Wir haben die Pflicht, zu verstehen und zu erklären, was genau die Politik der Guelfen war und ist. Und um Missverständnissen vorzubeugen, will ich versuchen, dieses historische Phänomen zu definieren.
Der Guelfismus war schon immer in Italien die Ehe zwischen dem weltlichen Partikularismus und dem überweltlichen Universalismus. Eine Ehe, in der die Laien, seien sie von niedriger Herkunft, mächtig oder übermächtig und arrogant, ihre eigenen privaten Interessen verfolgten und zugleich der überweltlichen Instanz die Vollmacht gaben, sich um das Geistige zu kümmern, die ethischen Prinzipien zu stiften und die Identifikationsriten der ganzen Gemeinschaft zu pflegen.
Eine hohe Instanz, die sich natürlich von überweltlichen Kriterien führen ließ und lässt, die das Denken und Handeln, die Wünsche , die Willensakte und die soziale Interaktion lenkte und lenkt, und zwar entlang der Achse, die Seelenheil von Verdammung trennt, und gleichfalls entlang dem Viereck Schuld-Reue-Vergebung- und Tilgung der Schuld.
Nun, diese katholischen Geometrien haben zu oft uralte, sogar vorchristliche Herrschaftsformen und soziale Rangordnungen geduldet. Beispiele dafür sind der Paternalismus, der Familismus, der jegliche Bürgerpflicht missachtet und die Klientelwirtschaft. Solche Geometrien waren schon immer der ideale Nährboden, um die vollkommen immanenten Werte der Allgemeingültigkeit und Überkonfessionalität des Gemeinwesens zu umgehen oder zu schwächen, oder sogar um die bürgerlichen Tugenden zu verachten. Daher sehen wir unter gewissen edlen Flügeln so oft und gerne so viele kauern, die die Freiheit der Wilderei oder des Schwarzmarkts praktizieren.
Wenn es so ist, dann kann sich allein eine strikt laizistische Strategie auszahlen, die an die Aufklärung im engen Sinne anknüpft. Ich meine damit eine Strategie, die sich an dem Kriterium der immanenten Allgemeingültigkeit orientiert, die leidenschaftlich versucht, die Gesellschaft von ihrer manisch-depressiven Psychose und von ihren vielen Ungerechtigkeiten zu befreien, und ebenfalls von ihrer geringen Fähigkeit, sich selbst zu organisieren und schließlich von der weit verbreiteten Anpassungskunst.
Ich denke, dass die Lage in Italien sich nur unter der Bedingung bessern lässt, dass wir uns von den konstituierenden Prinzipien der großen Demokratien wirklich und dauerhaft inspirieren lassen. Nur so besteht die Chance, eine Allianz von historischer Tragweite zu schmieden, die auch unsere allzu bekannten Nationalprobleme in Angriff nimmt. Gemeint sind vor allem:
*der Säuberung des Südens von den Mafiahochburgen, damit sich die dortige Gesellschaft von ihrem Übel befreit;
**die Veränderung der staatlichen Schule, so dass sie wieder ein Wissen vermittelt, das dem besseren Verständnis unserer Vergangenheit dient. Die Schule soll außerdem imstande sein, die Schüler aus allen Schichten, jeder Herkunft und Religion zu integrieren, ihnen allen gleiche Chancen zu bieten und aus ihnen verantwortungsvolle Bürger zu bilden;
***eine kräftige Förderung der wissenschaftlichen Forschung;
****das Ende der Schändung unserer Umwelt und der unkontrollierten Bebauung;
*****die drastische Bekämpfung der Steuerhinterziehung, welche bei uns ein absurdes und gefährliches Ausmaß erreicht hat; parallel dazu soll der wahre Sinn der Besteuerung wieder in den Mittelpunkt rücken.
Noch ein letzter Gedanke. Selbst wenn man nur oberflächlich über die Natur dieser Aufgaben nachdenkt, kommt man rasch zu diesem Schluss: man sollte jeglicher Versuchung widerstehen , unser Land jetzt föderalistisch umzubilden.

( b )
Ich kenne kein anderes westeuropäisches Land, in dem die Bürgerrechte so systematisch verletzt oder herabgesetzt werden wie in Italien. Darunter verstehe ich das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht, zu wissen, wer, wenn es welche gibt, die Schuldigen sind an einem Missstand, an einer Veruntreuung, an einer Straftat, das Recht darauf, dass öffentliche Gelder mit Sinn und Maß ausgegeben werden, das Recht auf Schutz vor Monopolen. Ich möchte dies anhand einiger Beispiele verdeutlichen. Einige davon sind allen bekannt, andere stammen aus dem Fundus meiner persönlichen Erfahrung.
Dass es nach den Anschlägen auf der Piazza Fontana, auf der Piazza della Loggia oder in Bologna, nach der Explosion des Flugzeugs über Ustica nie zu klaren Verurteilungen und zu angemessenen, definitiven Bestrafungen kam, ist eine Schande für die ganze Civitas (so wie sie schon die alten Römer verstanden). Und somit ist jeder einzelne Fakt dieser Art damit auch eine Gewalttat gegenüber jedem Bürger als solchem. Dies gilt ebenso dafür, dass die skandalöse Rolle oder die Ineffizienz der staatlichen Organe im Umgang mit diesen Ereignissen nicht von der Allgemeinheit thematisiert worden ist, um wenigstens ein Schuldeingeständnis zu erreichen. Ebenso schädlich ist es, dass diese Tatsachen nicht ausreichend aufgearbeitet wurden, um ein historisch bedeutsames Erbe zu werden, von der Allgemeinheit geteilt und getragen. Dasselbe gilt für die Mafiamorde. Die zahlreichen Verletzungen des Gesetzes des freien Wettbewerbs stellen ebenso viele Verletzungen der grundlegenden Bürgerrechte dar. Und schließlich bedeutet auch die Tatsache, dass eine Zugverspätung nicht angekündigt wird oder Reisende nicht über Alternativen informiert werden, ebenfalls die Verletzung eines Rechtes.
Und wie sollte man mein Erlebnis charakterisieren, als ich sah, dass der damals nagelneue Flughafen Malpensa einem riesigen, von Dilettanten geplanten Bahnhof glich, und als ich feststellen musste, dass die Verbindungen nach Mailand und der übrigen Lombardei miserabel waren? Ich war einfach sprachlos. Haben Bürger etwa nicht das Recht, adäquate öffentliche Bauten und Einrichtungen zu nutzen? Und was könnte man dazu sagen, dass an einem 20. September Italienischlehrer für das Ausland zentral in Rom eingestellt und zugleich aufgefordert werden, sich zwei Tage danach mit Sack und Pack am jeweiligen Dienstort zu präsentieren? Oder was könnte man dazu sagen, dass im Ferienmonat August Italienischdozenten für ausländische Universitäten ohne Vorankündigung via Internet versetzt werden, und zwar mit einer Widerspruchsfrist von sage und schreibe drei Tagen? Stellt dies vielleicht keine Rechtsverletzung dar?
In jedem anderen westeuropäischen Land, sagen wir etwa in Frankreich, würde die öffentliche Meinung bei einer Verletzung solch grundlegender Rechte aufstehen und rebellieren. Bei uns in Italien hingegen hat man sich damit abgefunden, Gerechtigkeit nicht zu verlangen. Wenn nun aber die Lage so ist und man vor der Resignation nicht resignieren will, dann bleibt keine andere Wahl, als sich von unten her zu organisieren. Dann bleibt nur noch, den Protest zu organisieren. Vielleicht könnte die Gründung von Komitees zum Schutz der Bürgerrechte nützlich sein ... Komitees, die die Bürger vor den Lobbys schützen; Komitees, die dafür kämpfen, dass die Missbräuche bestraft werden; Komitees, die die Frage einer funktionierenden Justiz konkret, im Kontext, stellen und die den Stand der Bürgerrechte in unserem Land mit dem von anderen „normalen“ Ländern vergleichen und bestimmte Lehren daraus ziehen; Komitees, die die Rechte von Einwanderern gewährleisten.
( c )
Selbstverständlich sehe ich mich nicht dazu in der Lage, zu den spezifischen sozialen Problemen des heutigen Italiens Stellung zu nehmen, daher fällt dieser Abschnitt besonders „mager“ aus. Ich weiß aber, dass das Prekariat bei jungen Menschen immer mehr um sich gegriffen hat, dass verschiedene Formen der Ausbeutung der Arbeitskraft von Einwanderern, vor allem von illegalen, sehr verbreitet sind. Ich habe hier keine konkreten Vorstellungen, aber es scheint mir doch lohnenswert, zu schauen, ob die Gewerkschaften in der Lage sind oder nicht, sich mit diesen Phänomenen auseinander zu setzen. Aber der Kern der sozialen Frage ist auch: Die öffentliche Meinung als Ganzes muss begreifen, dass institutionalisierte Unsicherheit in den Arbeitsverhältnissen, Schwarzarbeit und Niedriglöhne nicht nur dem Gemeingut Ressourcen entziehen, sondern auch die Vorstufe zu wirtschaftlichem Niedergang sind. Und in der Tat, in der heutigen Welt findet die Arbeit überall leicht ihre Allokation: Die besser ausgebildeten jungen Menschen gehen ins Ausland, die hoch motivierten oder fähigeren Migranten ebenso. Wenn Ressourcen und Ideen zur Förderung technisch fortgeschrittener Produktionsformen und Dienstleistungen nicht mobilisiert werden, kommt es zum Niedergang. Der Wettbewerb zwischen uns und besser aufgestellten Ländern, allen voran Deutschland, ist eindeutig größer geworden.
Meiner Ansicht nach verweisen Fragen dieser Art unmittelbar auf das Handeln der progressiven nationalen Parteien. Sie müssen Reformvorschläge für den Arbeitsmarkt vorlegen und die Allianz zwischen all denjenigen fördern, die die ökonomische Wohlfahrt des Landes steigern. Dies natürlich zu Lasten der parasitären Schichten.
( d )
Zuletzt noch einige Bemerkungen. Wir sollen unbedingt verstehen, was wir sind und wie wir es geworden sind. Jedes Volk müsste über dieses Wissen verfügen, müsste wissen, was es konstituiert hat und was es zusammenhält, oder was es zusammenhalten soll. Bloß aus dem Fundus eines solchen Selbstbewusstseins kommt man zu heilenden und zukunftsweisenden Gedanken. Dies ist der Königsweg, um die historischen Defizite unseres Landes zu beheben. Nur damit können wir den höchsten Hebeleffekt erzielen. Wie sonst kann man den Dreh- und Angelpunkt zum Handeln finden, wenn nicht über die Reflexion über sich selbst und über Erweiterung des eigenen kognitiven Horizonts? Nur so kann ein kleines Wunder geschehen: die Reinigung und Verwandlung seiner selbst und anderer.
Es ist eine lang vernachlässigte Pflicht, ‚ziviles’ Wissen und Momente des Austauschs und der Wissensverbreitung zu schaffen, ausgehend von unten, von den Bürgern. Es ist verantwortungslos, der Übermacht bestimmter TV-Sender, dem wahren Opium des Volkes, nichts entgegenzusetzen. Jeder sollte sich in Organisationen engagieren, die gezielt den Bürgersinn fördern. Aber gezielt in welche Richtung?
Ansätze dazu findet man, wie ich meine, bereits auf den vorangegangenen Seiten. An erster Stelle stehen meines Erachtens der Erwerb und die Verbreitung von Wissen über die Geschichte Italiens, insbesondere in ihren entscheidenden Wendepunkten und im Rahmen der europäischen Geschichte. Aber sicher, wenn die geeigneten interpretatorischen Instrumente nicht zur Verfügung stehen ... dann wird die Geschichte zu einem Rosenkranz aus Fakten, die in ihrer Bedeutung unklar bleiben. Man muss also auch auf die Ideengeschichte genauestens achten und verdrängtes Wissen wieder vermitteln.
Ein eklatantes Beispiel: Es ist bedauerlich, dass das Werk „De Monarchia“ von Dante niemals Teil der kulturellen Grundlage jedes italienischen Bürgers geworden ist. Dieses spröde und leidenschaftlich geschriebene Werk war ein herausragender Versuch, die Idee einer auf Europa bezogenen Theokratie anzufechten und sich ihr entgegenzustellen. Es ist ebenfalls eine klare und gnadenlose Analyse des Übels, das sich unter den „schützenden“ Flügeln der vereinten (geistigen und weltlichen) Macht der Kirche entwickelt hatte, nämlich der cupiditas, Mutter jeglicher Form von Korruption. Es ist eine Aufforderung zum buon governo, zum guten Regieren, das eigentlich der universalen weltlichen Macht zusteht, damals dem Kaiserreich. Es ist auch ein Appell, eine Mahnung, dem Frieden zuliebe, dem kostbarsten Gut für die Gemeinschaft der Menschen, jenen Weg einzuschlagen.
Nun, ich erinnere mich vage an meine Schulzeit, aber ich meine, dieses Werk von Dante wurde als anachronistisch abgetan, geschrieben von jemandem, der die Entwicklung der Autonomie der Kommunen nicht wahrhaben wollte. In der Tat lag der Ruhm ... damals ... auf der Seite der Helden von Pontida und Legnano! Aber wie konnten wir bloß solche Märchen schlucken? Dabei kannte der Verfasser von „De Monarchia“ das Leben der autonomen Städte sehr gut und wenn er nicht geflüchtet wäre, hätte er seinen Kopf nicht retten können! Dabei kann „De Monarchia“ auch als ein unverzichtbarer Anhang zur „Divina Commedia“ betrachtet werden. Dabei hatte Dante doch schon vor, Papst Bonifatius VIII. und andere Päpste in die Hölle zu verpflanzen! Wie kam eine solche Verdrehung der Wahrheit zustande? Spricht die Tatsache, dass das Werk nur wenige Jahre nach seiner Entstehung aus dem Verkehr gezogen wurde, nicht für sich? Einmal in der Versenkung verschwunden, tut sich Erkenntnis schwer damit, wieder ans Licht zu kommen. Wenn sie es dann doch schafft, aber von niemandem gehütet und verbreitet wird, dann bleibt sie leider leblos und wirkungslos.
Das Leitkriterium für ein Überdenken unserer ganzen Geschichte ergibt sich, wie ich meine, von selbst: Es ist die Notwendigkeit, den Sinn für das Allgemeingut zu schaffen und zu verbreiten.
Einige Schlüsselfragen, die es verlangen, immer wieder untersucht zu werden oder die zum Nachdenken auffordern, sind meiner Ansicht nach: der Investiturstreit, der Kampf zwischen Guelfen und Gibellinen, Kommunen und Signorie, die Renaissance in Italien, die Reformation und Gegenreformation, die Bildung moderner Nationalstaaten, das Risorgimento und die nationale Einheit, der Erste Weltkrieg, der Faschismus, der antifaschistische Widerstand und die Republik Italien.
Ich denke, dass die Bildung eines Netzes von kulturellen Vereinigungen in Italien, die sich den Bürgersinn auf die Fahne schreiben, wirklich der Königsweg ist, um diese Aufgabe zu erfüllen. Natürlich gehört dazu die Absicht, ein breites Publikum zu erreichen, Begegnungen, Vorträge, Wanderausstellungen, Kontakte zu den Schulen zu organisieren. Wir müssen auch ein Ansporn für die Verlagswelt sein, damit entsprechende Texte produziert und ausreichend verbreitet werden.
Es ist viel zu tun, liebe Freunde. Aber könnte man sich eine schönere und nützlichere Arbeit als diese vorstellen?

Heidelberg, 29 / 12 / 2010
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Beppe Vandai






Text des Vortrags “Nave senza nocchiere…”, gehalten vom Autor am 24.02.2011 im ISTITUTO ITALIANO PER GLI STUDI FILOSOFICI –
Scuola di Heidelberg (Apothekergasse 3, 69117 Heidelberg).


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